Das Grenzgebiet Brissago-Cannobio-Valle Cannobina in der Nähe der Region Locarno war stark von den Kriegsereignissen der Jahre 1943-1945 betroffen. Diese kurze Zusammenfassung veranschaulicht, was während der zwanzig Monate in diesem Gebiet geschah. Weitere Informationen finden Sie im Blog des Autors Raphael Rues: www.insubricahistorica.ch.

In der Nacht vom 24. auf den 25. Juli 1943 beschliesst der Grosse Rat des Faschismus nach der katastrophalen italienischen und deutschen Kriegssituation, Benito Mussolini als Regierungschef abzusetzen. Während des Sommers ist die Situation an der Grenze zu Locarno sehr ruhig. Alles änderte sich am 8. September 1943 mit der Bekanntgabe des Waffenstillstands, den die italienische Armee mit den alliierten Streitkräften schloss. Es folgen zwei bis drei Tage allgemeiner Desorientierung. Die ohne Befehl zurückgelassenen italienischen Soldaten verlassen ihre Posten, die in Norditalien gefangen gehaltenen alliierten Soldaten entkommen aus den unbewachten Gefangenenlagern, während die Depots der Kasernen von der Bevölkerung geplündert werden.

Alles änderte sich am 12. September 1943, als die Deutschen mit der Besetzung des Gebiets beginnen. Zwischen Meina-Verbania und dem Ortasee tötet ein Waffen-SS-Bataillon “Leibstandarte Adolf Hitler” mindestens 50 Juden. Cannobio ist vom Zollgrenzschutz besetzt. Diese Truppe richtet ihr Hauptquartier im Albergo Cannobio ein. Mussolini, der am 12. September aus der Gefangenschaft befreit wird, gründet in Salò am Gardasee eine pseudofaschistische Regierung, die mit den Deutschen verbündet ist.

Offiziere des Zollgrenzschutzes vor dem Seeufer von Cannobio im Jahr 1944

Seit Mitte September 1943 sind es etwa 5.000 Menschen: alliierte Ex-Kriegsgefangene, italienische Deserteure, politische Flüchtlinge und jüdische Familien, die über Brissago, Monte Ghiridone, Cortaccio, Penseverone und sogar Centovalli die Grenze überqueren, um sich zu retten – fast immer auf sehr abenteuerliche Weise. Unter ihnen befinden sich mindestens 300-400 Juden. Der unwegsame Grenzübergang wird dank lokaler “Passatori” – darunter mehrere Tessiner aus Brissago, Ronco und Ascona – und Schmugglern bewältigt. Dieser “Service” hat einen hohen Preis. Für jeden Juden, der die Grenze überschreitet, beträgt die Gebühr für den “Übergang” 5.000-10.000 Lire (heute etwa 1.600-3.200 EUR/CHF/Person), der Preis variiert und kann leicht das Doppelte betragen.

In Gelb sind die verschiedenen Routen dargestellt, die in den Jahren 1943-1945 zum Überqueren des Grenzgebiets benutzt wurden. Quelle: Swisstopo GIS

Es ist davon auszugehen, dass im Herbst 1943 allein im Sektor Brissago mindestens 200 Personen von den Schweizer Grenzwächtern zurückgewiesen werden, darunter 50 Juden. Diejenigen, die es stattdessen schaffen einzureisen, werden in Cugnasco und Riazzino zusammengefasst. Nach einem Verhör und einer obligatorischen medizinischen Untersuchung werden alle mit der Bahn über den Gotthard in verschiedene Arbeitslager gebracht. Nur die besser finanziell gestellten Zivilflüchtlinge bleiben in der Region und wohnen in Hotels oder bei Privatpersonen. Zu den bekanntesten Persönlichkeiten, die in dieser Zeit aus Cannobio-Brissago kamen, gehören: Umberto Terracini, Kommunist und zukünftiger Sekretär der Partisanenrepublik Ossola, und Ettore Janni, ehemaliger Chef-Redakteur des Corriere della Sera.

Die Grenze zwischen San Bartolomeo (Cannobio) und Brissago, in der Region Valmara. Quelle: Insubricahistorica.ch

Ab Herbst 1943 schliessen sich einige junge Leute aus der Gegend von Cannobio, Deserteure der Armee und ehemalige alliierte Gefangene zusammen und organisierten die ersten Widerstandszellen gegen die deutsche Präsenz in der Region. Es handelt sich zumeist um kleine Partisanenverbände von 20-30 Partisanen pro Tal, die meistens schlecht bewaffnet und nur spärlich ausgerüstet sind. In Cannobio und Umgebung gibt es zwei Formationen: die “Brigata Cesare Battisti” unter dem Kommando von Armando “Arca” und die “Brigata Generale Perotti” unter dem Kommando von Filippo Frassati.

Von links nach rechts: Armando Calzavara, Mario Muneghina und Pippo Coppo. Die ersten beiden von Links sind Partisanenkommandanten, die in Valle Cannobina und Valgrande aktiv sind.

Beide sind junge Infanterieoffiziere, die nicht aus der Region stammen. Calzavara, ein enger Freund des Bürgermeisters von Locarno, Giovan Battista Rusca, kam mehrmals durch das Gebiet von Cortaccio-Monte Ghiridone, um Hilfe für seine Formation zu bitten und zu erhalten. In diesem Gebiet und in dieser Zeit gab es noch keine kommunistischen “Garibaldini” Formationen. Ab 1943 beherbergte das Tessin in Lugano auch die Konsulaten der britischen und amerikanischen Alliierten, die mehrmals von Partisanenführern (Dionigi Superti, Filippo Frassati, Alfredo DiDio u.v.m) besucht wurden. Von diesen Konsulaten aus wurde der Versand von Waffen aus der Schweiz sowie der Abwurf aus der Luft von Waffen, Munition und Vorräten in Val Grande und Cannobina organisiert.

Auf dem Monte Verità in Ascona bei der heutige Casa Anatta wird ein Partisanengefechtsstand (Posto Comando 24) eingerichtet. Mehrere Partisanen und alliierte Agenten kommen hier auf ihrem Weg ins und aus dem Cannobina-Tal vorbei. Auf Locarneser Seite unterstützen die Partisanen: Giacomo Thommen, Emanuele Lello Bianda, Gottardo Bacchi, Silvio Baccalà und Vincenzo Martinetti.

Casa Anatta Monte Verità Ascona, gemietet in den Jahren 1943-1945 von dem jüdischen Unternehmer Mario Pontremoli. Etwa 200 Partisanen und Verbündete kamen durch dieses Haus.

Bis zum späten Frühjahr 1944 gibt es keine nennenswerten Kriegshandlungen in der Gegend von Cannobio/Valle Cannobina. Die wenigen Partisanenaktionen beschränken sich auf Angriffe auf kleine Militärgarnisonen, um Kleider und selten leichten Waffen zu erbeuten. Das Verhältnis zur lokalen Bevölkerung ist sehr respektvoll, und es gibt keine Anzeichen für Misshandlungen.

Die Kriegslage änderte sich, als im Frühjahr 1944 der deutsche Bandenbekämpfungsstab Italien West gebildet wurde, der alle Razzien im Piemont konzipierte. Die grösste Aktion, die dieses Grenzgebiet berührt, findet vom 12. bis 22. Juni 1944 statt. Etwa 4.200 deutsche und faschistische Soldaten führen nach der Abriegelung des Toce-Tals, des Cannobina-Tals und des Vigezzo-Tals ein Konvergenzmanöver zur Mitte des Val Grande durch. In den zehntägigen Kämpfen wurden bis zu 200 Partisanen getötet. Es handelte sich eigentlich wenig um Partisanen, sondern um junge Männer aus der Lombardei, die einige Wochen zuvor in die Berge geflohen waren, um der Armee-Einberufung der Faschisten oder der Arbeit in den Arbeitslagern des Reiches zu entgehen. Mit viel Glück überleben die beiden Hauptkommandanten der Partisanen, Dionigi Superti und Mario Muneghina, die Aktion und nehmen die Widerstandsaktivitäten in der Region wieder auf.

Im Sommer 1944 brachen die Deutschen an der Südfront der Halbinsel zusammen, innerhalb weniger Monate stiessen die Alliierten bis nach Florenz vor. Aus Angst vor einem baldigen Ende des Konflikts und einem Angriff der Alliierten von Savoyen aus, wurden alle deutschen Truppen der Region nach Aosta verlagert. Diese Lockerung der Präsenz ermöglichte es den Partisanenkräften, die auch durch die – später nicht eingelösten – Versprechungen von Allen Dulles über alliierte Kriegshilfen ermutigt wurden, ihre Angriffe zu verstärken. Am 29. August kommt es in Cannobio zu einer deutschen Vergeltungsaktion unter dem Befehl von SS-Sturmbannführer Hans Clemens, der auch für das Massaker an den Fosse Ardeatine in Rom verantwortlich war.

Hans Clemens, SS-Offizier, der am 29.9.1944 die Vergeltungsaktion in Cannobio verübte. Nach dem Krieg bei der Entstehung des deutschen Bundesnachrichtendienstes. Er wurde 1963 wegen Spionage für die Sowjetunion verhaftet.

Cannobio und das Cannobina-Tal werden am 2. September 1944 von den Partisanen erobert. Der Erfolg war nur von kurzer Dauer, denn am 10. September besetzt ein starkes Kontingent faschistischer Fallschirmjäger aus Maccagno-Varese, darunter der spätere Nobelpreisträger Dario Fò, erneut die Stadt Cannobio. Die Faschisten sind jedoch militärisch geschwächt und nicht in der Lage über Traffiume hinauszukommen.

In der Zwischenzeit wird Domodossola von den Partisanen befreit und die “Zona Libera Ossola”, die so genannte “Partisanenrepublik Ossola”, wird gegründet. Das erste gross angelegte demokratische Experiment in Italien nach zwanzig Jahren Faschismus. Die Existenz der Republik ist ebenso wichtig wie kurzlebig, trotz der wirtschaftlichen und politischen Hilfe des Tessins, die nur 40 Tage andauert.

Grenzstein der Freizone Ossola, die im September-Oktober 1943 für weniger als 40 Tage bestand.

Am 10. Oktober 1944 organisieren die Deutschen und die Faschisten die Wiederbesetzung der Stadt. An den Grenzen von Brissago und Ponte di Falmenta kommt es zu erbitterten Kämpfen. Die Partisanenfront von Cannobina ist die erste, die zusammenbricht. Am Morgen des 12. Oktober 1944 werden die Kommandanten Moneta und DiDio im Finero-Tunnel unter noch ungeklärten Umständen getötet. Dies führt zu einem Zusammenbruch der gesamten Kampffront. Die meisten Partisanen aus dem Cannobina-Tal ziehen sich über das Vigezzo-Tal und die Bagni di Craveggia-Spruga (Onsernone Tal) in die Schweiz zurück (16.-18. Oktober 1944). Der Grossteil der deutsch-faschistischen Truppen erobert am 17. Oktober 1944 das verlassene Domodossola, während die letzten Partisanen um den 25. Oktober 1944 vom Ende des Formazza-Tals her in die Schweiz eindringen. Etwa 9.000 Partisanen, Zivilisten und Kinder entkommen und werden in der Schweiz aufgenommen, hauptsächlich in Locarno und im Wallis.

Ort, an dem die Partisanenkommandeure Attilio Moneta und Alfredo DiDio am 12.10.1944 getötet wurden.

Den Deutschen und Faschisten gelingt es mit dieser Operation die Ossola zurückzuerobern, aber es fehlt ihnen an Initiative und logistischen Mitteln. Im Februar 1945 kehrten die ersten Partisanen aus den Schweizer Internierungslagern zurück, so dass sich die Widerstandsverbände neu formieren und die nun spärlichen deutsch-faschistischen Kräfte angreifen konnten. Der Grossteil dieser Truppe zieht sich schliesslich am 25. April 1945 von der Ossola in Richtung Novara zurück. Nach einem von Partisanenangriffen und Repressalien geprägten Weg kapitulieren die Deutschen am 29. April 1945 in Novara vor den amerikanischen Streitkräften.

Partisanenangriff am 21-22.4.1945 auf deutsche Truppen, die einen der beiden Eisenbahntunnel am Simplon zerstören wollten.

Raphael Rues, Minusio-Cannobio 1. August 2022